Lernen von der Wiege bis ins Grab

Einleitung

Die wichtigste Aufgabe und der bedeutendste Zweck des menschlichen Lebens bestehen darin, Wissen zu suchen. Die Bemühung um dieses Wissen – allgemein Bildung genannt – ist ein Prozess, innerhalb dessen wir uns auf der spirituellen, intellektuellen und physischen Ebene unseres Seins jenen Rang erwerben, der uns bestimmt ist, wenn wir vollkommene Muster der Schöpfung sein möchten. Bei unserer Geburt, d.h., in der Frühphase unserer Reise von der Welt der Geister zur Ewigkeit, sind wir absolut hilflos und bedürftig. Im Gegensatz zu den Tieren, denn die meisten von ihnen kommen zur Welt, ganz als seien sie bereits zuvor vorbereitet und vervollkommnet worden. Innerhalb weniger Stunden, Tage oder Monate lernen sie alles, was sie für ihr Überleben benötigen, und darüber hinaus, wie sie sich in ihrer Umwelt und anderen Geschöpfen gegenüber zu verhalten haben.

Spatzen und Bienen beispielsweise entwickeln in ca. 20 Tagen die Reife und alle Fertigkeiten, auf die sie angewiesen sind. Wir dagegen brauchen 20 Jahre und mehr, um in ein vergleichbares Stadium der Reife zu treten. Völlig hilflos kommen wir zur Welt, und die Gesetze des Lebens sind uns fremd. Um unsere Bedürfnisse zu decken und Unterstützung zu erhalten, bleibt uns nichts anderes übrig, als zu weinen. Erst nach ca. einem Jahr sind wir in der Lage, aufrecht zu stehen, und beginnen zu laufen. Und erst mit 15 Jahren sollten wir den Unterschied zwischen gut und schlecht oder nützlich und schädlich kennen. Intellektuelle und spirituelle Vollkommenheit zu erlangen, dauert jedoch ein ganzes Leben lang. Der Hauptzweck unseres Lebens liegt im Streben nach Vollkommenheit und Reinheit in Denken, Glauben und Vorstellung. Indem wir unsere Pflicht, dem Schöpfer, Ernährer und Beschützer zu dienen, erfüllen und indem wir das Geheimnis der Schöpfung mit Hilfe unserer Potenziale und Fertigkeiten erforschen, eignen wir uns den Rang wahrer Menschlichkeit an und erweisen uns eines glückseligen ewigen Lebens in einer anderen, erhabenen Welt würdig.

Unsere Menschlichkeit ist direkt proportional zur Reinheit unserer Gefühle. Menschen mit unreinen Gefühlen und Seelen, die vom Egoismus getrübt sind, sehen zwar aus wie Menschen; ob sie jedoch wirklich Menschen sind, ist zu bezweifeln. Praktisch jeder Mensch ist im Stande, seinen Körper zu trainieren, aber nur wenige schaffen es, ihren Geist und ihre Gefühle zu schulen. Das Training des Körpers produziert starke Körper, während jenes andere Training spirituelle Menschen hervorbringt.

Unsere angeborenen Fähigkeiten

Seit der Zeit Ibn Miskawayh’s werden die menschlichen Antriebskräfte oder ‚Triebe‘ in drei Kategorien unterteilt: Vernunft, Zorn und Lust.1 Die Vernunft umfasst Fähigkeiten wie Begriffsvermögen, Vorstellungskraft, Berechnung, Gedächtnis, Lernfähigkeit usw.. Die Angst erstreckt sich auf unsere Fähigkeiten zur Selbstverteidigung; hierunter fällt laut islamischer Rechtsprechung all das, was benötigt wird, um Glauben und Religion, geistige Gesundheit, Besitz, Leben, Familie und andere heilige Werte zu schützen. Als Lust wird der Trieb unserer animalischen Begierden bezeichnet:

Zum Genuss wird den Menschen die Freude gemacht an ihrem Trieb zu Frauen und Kindern und aufgespeicherten Mengen von Gold und Silber und Rassepferden und Vieh und Saatfeldern. Dies ist der Genuss des irdischen Lebens. (3:14)

Über diesen Trieb verfügen auch andere Geschöpfe. Doch bei allen Geschöpfen mit Ausnahme des Menschen sind diese drei Antriebskräfte begrenzt – egal ob man nun den Trieb der Begierde, den Verstand oder die Entschlossenheit, Leben und Eigentum zu verteidigen, nimmt. Jeder Mensch ist mit einem einzigartigen freien Willen und der aus ihm resultierenden Verpflichtung, seine Kräfte zu disziplinieren, ausgestattet. Über dieses Bemühen um Disziplin definiert sich unser Menschsein. Miteinander kombiniert und abhängig von den jeweiligen Umständen nehmen unsere Antriebskräfte auch oft die Gestalt von Eifersucht, Hass, Feindseligkeit, Heuchelei und Angeberei an. Auch diese Produkte müssen wir disziplinieren.

Der Mensch besteht nicht allein aus Körper und Verstand. Jeder von uns besitzt einen Geist, der befriedigt werden möchte. Ohne eine Befriedigung des Geistes können wir weder Glück noch Vollkommenheit erlangen. Spirituelle Vollkommenheit bescheren uns einzig und allein das Wissen um Gott und der Glaube an Ihn. Wir sind an die physische Welt gefesselt. Unser fleischliches Selbst, Zeit und Raum erscheinen uns wie Kerker. Entkommen können wir ihnen nur durch Glauben, regelmäßige Anbetung und die Wahrung von Abstand zu extremen Positionen bei der Nutzung unserer Fertigkeiten und Antriebskräfte. Es geht nicht darum, dass wir diese Kräfte ersticken. Aber wir müssen von unserem freien Willen Gebrauch machen, um sie einzudämmen, zu reinigen und in die Richtung des Guten zu lenken. Niemand verlangt von uns, unsere Gelüste zu eliminieren. Wir sollten sie aber auf rechtmäßige Art und Weise nutzen, um uns fortzupflanzen. Unser Glück liegt in der Beschränkung unserer Begierde auf die rechtmäßigen Grenzen des Anstands und der Keuschheit, nicht in der Teilnahme an Ausschweifung und Hemmungslosigkeit. Neid wiederum lässt sich in einen Wettlauf umlenken, der frei von Hass ist und uns dazu animiert, jenen, die uns in Frömmigkeit und guten Werken voraus sind, nachzueifern. Wer seinem Verstand die erforderliche Disziplin auferlegt, erwirbt sich Wissen und erlangt schließlich Weisheit. Wer seinen Zorn destilliert und trainiert, eignet sich Mut und Nachsicht an. Und wer seine Leidenschaft und seine Begierde zügelt, vervollkommnet seine Keuschheit.

Wenn man sich alle Tugenden zusammen als Mittelpunkt eines Kreises vorstellt und die Bewegungen weg von diesem Mittelpunkt als Sünden, wird jede Sünde umso größer, je weiter wir uns vom Mittelpunkt entfernen. Zu jeder Tugend gehören also unzählige S.den, denn es existiert nur ein Mittelpunkt in dem Kreis, aber unendlich viele Punkte, die diesen Kreis umgeben. Welche Richtung die Sünde nimmt, ist unerheblich. Denn jede Abweichung vom Zentrum ist eine Sünde – unabhängig davon, in welche Richtung sie sich entwickelt.

Jede moralische Eigenschaft kennt zwei Extreme: Mangel und Übermaß. Die beiden mit der Weisheit verbundenen Extreme sind Dummheit und Gerissenheit; die Extreme des Mutes sind Feigheit und Unbesonnenheit, die der Keuschheit Lethargie und unkontrollierte Lust. So liegt die Vollkommenheit des Menschen, der Hauptzweck unserer Existenz, darin, einen Zustand der Ausgewogenheit und Mäßigung zwischen den Extremen aufrecht zu erhalten. Von Ali ibn Abi Talib stammen die Worte:

„Gott hat die Engel durch einen Verstand und durch das Fehlen von sexueller Begierde, Leidenschaft und Zorn, die Tiere hingegen durch Leidenschaft und Begierde und durch die Abwesenheit eines Verstandes ausgezeichnet. Die Menschheit jedoch hob Er dadurch hervor, dass Er ihr alle diese Eigenschaften verlieh. Wenn der Verstand eines Menschen also dessen Begierde und Wildheit beherrscht, erhebt sich dieser Mensch dadurch auf einen Rang, der noch über dem der Engel liegt. Denn dieser Rang wird trotz der Existenz von Hindernissen erklommen, die sich den Engeln nicht in den Weg stellen.

Eine Gemeinschaft zu kultivieren, ist nur dann möglich, wenn die jungen Generationen in den Rang der Menschlichkeit erhoben werden, nicht aber durch die Auslöschung schlechter Menschen. Solange das Saatkorn von Religion, Tradition und historischem Bewusstsein nicht überall im Land Triebe entwickelt hat, werden immer neue böse Triebe an die Oberfläche kommen und dort wachsen, wo die schlechten Triebe abgeschnitten wurden.“

Die wahre Bedeutung und der wahre Wert der Bildung

Durch Bildung zu lernen, ist ein empfehlenswertes Lebensmotto und gleichzeitig eine erhabene Pflicht, in der sich Gottes Name Rabb (Erzieher und Unterstützer) manifestiert. Wenn wir diese Pflicht erfüllen, erheben wir uns in den Rang eines wahren Menschen und werden zu nützlichen Teilen der Gesellschaft.

Bildung ist sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft lebenswichtig. Die Zukunft eines Landes hängt von seiner Jugend ab. Wer also die Zukunft seines Landes sichern möchte, sollte genauso viel Energie auf die Erziehung seiner Jugend verwenden wie auf andere Dinge. Ein Land, das seine Jugend im Stich lässt, das sie den kulturellen Einflüssen anderer Länder überlässt, gefährdet die eigene Identität und setzt sich der Gefahr kultureller und politischer Schwäche aus. Die Gründe für die Laster, die man bei der Jugend von heute beobachten kann, aber auch die Ursachen der Inkompetenz mancher Verwaltungsbeamter und weiterer Probleme auf Landesebene liegen in den Zuständen und Eliten begründet, die vor 25 Jahren herrschten. Daraus folgt, dass diejenigen, die heute mit der Erziehung der jungen Menschen befasst sind, für Sünden bzw. Tugenden verantwortlich sein werden, die in 25 Jahren auf der Tagesordnung stehen werden. Wer heute die Zukunft eines Landes vorhersagen möchte, muss nur Erziehung und Bildung dessen Jugend analysieren. Nur Wissen befähigt zu einem ‚wahren‘ Leben. Wer Lernen und Lehre vernachlässigt, darf als ‚tot‘ gelten, obwohl er eigentlich noch lebt. Denn der Mensch wurde erschaffen, damit er lernt und anderen das, was er gelernt hat, weiter vermittelt.

Richtige Entscheidungen sind auf einen gesunden Verstand und die Fähigkeit, rechtschaffen zu denken, angewiesen. Ein Verstand, der zu Wissenschaft und Wissen keinen Zugang besitzt, kann keine richtigen Entscheidungen treffen. Stattdessen läuft er ständig Gefahr, getäuscht und in die Irre geführt zu werden.

Wahre Menschen sind wir nur dann, wenn wir lernen, lehren und andere inspirieren. Unwissende Menschen und solche, die keinen Wunsch zu lernen verspüren, lassen sich schwerlich als Menschen bezeichnen. Dahingestellt sei auch, ob gebildete Menschen, die es ablehnen, sich ständig zu überprüfen und zu vervollkommnen, um ihren Mitmenschen ein gutes Beispiel zu geben, wahre Menschen sind. Gesellschaftlicher Status und Einkommen, die Wissen und Wissenschaft zu verdanken sind, sind höher zu bewerten und währen länger als solche, die auf andere Mittel zurückzuführen sind.

In Anbetracht der Bedeutung von Lernen und Lehre sollte man zunächst definieren, was, wann und wie überhaupt gelernt bzw. gelehrt werden sollte. Zwar ist das Wissen ein Wert an sich; der Sinn des Lernens besteht jedoch darin, das Wissen zu einer Richtschnur im Leben zu machen und die Straße zur Vervollkommnung der Menschen zu beleuchten. Insofern stellt jedes Wissen, das dem Selbst nicht zu Gute kommt, für den Lernenden eine Last dar. Und eine Wissenschaft, die den Menschen nicht in Richtung der erhabenen Ziele führt, ist ein Trugbild.

Ein Wissen jedoch, das für den richtigen Zweck erworben wurde, ist für den Lernenden eine unerschöpfliche Quelle der Gnade. Diejenigen, die aus dieser Quelle schöpfen, stehen bei den Menschen ebenso hoch im Kurs wie Mineralwasserquellen und leiten sie zum Guten an. Ein Wissen, das sich auf leere Theorien und unreflektierte Fragmente beschränkt, die im Verstand Misstrauen schüren und das Herz verdunkeln, ähnelt einem Müllhaufen, der von verzweifelten und konfusen Menschen umschwärmt wird. Wissen und Wissenschaft sollten sich also darum bemühen, das Wesen des Menschseins und die Geheimnisse der Schöpfung zu enthüllen. Wissen, und selbst ‚wissenschaftlich‘ begründetes Wissen, ist nur dann wahr, wenn es Licht auf die Geheimnisse des Wesens des Menschseins und auf die dunklen Bereiche des Lebens wirft.

• Die Zukunft eines jeden Menschen ist direkt mit den Eindrücken und Erfahrungen, die er in seiner Kindheit und Jugend macht, verknüpft. Wenn Kinder und Jugendliche in einem Klima erzogen werden, in dem ihre Begeisterung durch höhere Gefühle noch angefacht wird, werden sie einen lebhaften Verstand entwickeln und ihre gute Moral und Tugendhaftigkeit unter Beweis stellen.

• Auch wenn Mädchen vor allem so erzogen werden sollten, dass sie zu zarten Blumen und liebevollen Erzieherinnen ihrer Kinder werden, ist darauf zu achten, sie zu unbeugsamen Verteidigerinnen der Wahrheit zu machen. Denn sonst verwandeln wir sie um ihrer Zierlichkeit und Sanftmut willen in schwache hilfsbedürftige Geschöpfe. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch Löwinnen über die Eigenschaften von Löwen verfügen.

Familie, Schule und Umfeld

Menschen, denen daran gelegen ist, ihre Zukunft zu sichern, kann es nicht gleichgültig sein, wie ihre Kinder erzogen werden. Familie, Schule, Umfeld und Medien sollten kooperieren, um das gewünschte Resultat zu erzielen. Im Widerspruch zueinander stehende Tendenzen innerhalb dieser entscheidenden Institutionen setzen junge Menschen Einflüssen aus, die sie beunruhigen und ihnen ihre Energie rauben werden. Die Medien sollten zur Erziehung junger Menschen beitragen, indem sie das Erreichen der Erziehungsziele, die von der Gemeinschaft ausgegeben werden, fördern. Die Schulen sollten in Bezug auf ihren Lehrplan und auf die wissenschaftlichen und moralischen Standards ihrer Lehrer so kompromisslos wie möglich sein. Die Familien sollten der Erziehung der Kinder die nötige Wärme und eine qualitativ hochwertige Atmosphäre einräumen.

Die Schule, in der wir die erste erforderliche Ausbildung zur Vollkommenheit erhalten, ist die Familie. Ein harmonisches Zuhause trägt ganz entscheidend zur Entwicklung einer segensreichen Generation und zur Festigung eines produktiven sozialen Systems bei. Die ersten Eindrücke, die wir in unserer Familie vermittelt bekommen, können später nicht mehr ausgelöscht werden. Die Kontrolle, die die Familie in Hinblick auf die Geschwister und das Spielzeug des Kindes ausübt, bleibt auch während dessen Schulzeit bestehen und erstreckt sich in jener Zeit auf die Freunde und die Bücher des Kindes und auf die Orte, die das Kind besucht. Eltern sollten die Köpfe ihrer Kinder mit Wissen und Wissenschaft füttern, bevor sie sich nutzlosen Dingen zuwenden. Denn Seelen, in denen Wahrheit und Wissen nicht zuhause sind, sind Felder, auf denen böse Gedanken gedeihen und wachsen.

Kinder können nur dann eine gute Erziehung in ihrer Familie erhalten, wenn diese über ein schönes Familienleben verfügt. Um für ein schönes Familienleben und damit auch für die Stabilität des Staates und der menschlichen Kultur zu sorgen, sollten die Menschen deshalb heiraten. Friede, Harmonie und Sicherheit in der Familie entspringen der wechselseitigen Übereinstimmung der Eheleute in Gedankenwelt, Moral und Glauben. Zwei Menschen, die gern heiraten möchten, sollten einander bereits sehr gut kennen und auf die Reinheit der Gefühle, Keuschheit, Moral und Tugend mehr Wert legen als auf Reichtum und körperliche Reize. Fehlverhalten und Frechheit bei Kindern spiegeln nur die Atmosphäre, in der sie groß geworden sind, wider. Ein gestörtes Familienleben beeinträchtigt mit der Zeit immer deutlicher den Geist der Kinder und damit auch den Geist der Gesellschaft.

In der Familie sollten die Älteren den Jüngeren mit Verständnis begegnen, und die Jüngeren sollten den Älteren Respekt entgegenbringen. Die Eltern sollten sich lieben und akzeptieren; ihre Kinder sollten sie mit dem nötigen Einfühlungsvermögen behandeln und ihnen genügend Aufmerksamkeit schenken. Sie sollten gerecht zu ihnen sein und nicht das eine Kind dem anderen vorziehen. Wenn Eltern ihre Kinder dazu ermutigen, ihre Talente um ihrer selbst willen und zum Wohle der Gemeinschaft zu entwickeln, schenken sie dem Staat damit stabile neue Stützpfeiler. Wenn sie es hingegen versäumen, ihren Kindern menschliche Gefühle zu vermitteln, lassen sie damit Skorpione auf die Gesellschaft los.

• Gute Umgangsformen sind eine Tugend, die bei jedem, der sie besitzt, gern gesehen ist. Jemand mit guten Umgangsformen wird auch dann geschätzt, wenn er ungebildet ist. Gesellschaften, denen es an Kultur und Bildung fehlt, sind wie grobe Menschen, die in ihren Freundschaften Loyalität und in ihren Feindschaften Entschiedenheit vermissen lassen.

Die Schule und der Lehrer

Die Schule ist ein Labor, in dem ein Elixier gebraut wird, das die Beschwerden des Lebens lindern oder sogar heilen kann. Die Lehrer sind diejenigen, die das Wissen und die Weisheit besitzen, dieses Elixier herzustellen und zu verteilen.

Die Schule ist ein Ort, in dem das nötige Wissen über dieses und das kommende Leben vermittelt wird. Sie kann bedeutende Ideen und Geschehnisse aufarbeiten und ihre Schüler in die Lage versetzen, sowohl ihre natürliche als auch ihre menschliche Umwelt zu begreifen. Die Schule versteht sich darauf, die Bedeutungen der Dinge und Ereignisse besonders schnell zu enthüllen. Insofern leitet sie die Schüler zur Einheit von Denken und Betrachtung an. In ihrer Essenz sind die Schulen so etwas wie Orte der Anbetung, deren ‚Heilige‘ die Lehrer sind.

Wahre Lehrer säen reine Samenkörner aus und behüten sie. Sie beschäftigen sich mit dem, was gut und nützlich ist. Sie führen und geleiten die Kinder durch ihr Leben und sind ihnen bei allem, was ihnen begegnen mag, behilflich. Den Schülern einer Schule, die den Titel ‚wahres Bildungsinstitut‘ zurecht trägt, sollten als Erstes ein Ideal, anschließend die Liebe zur Sprache und die Fähigkeit, sie Gewinn bringend zu nutzen, Moral und immer währende menschliche Werte vermittelt werden. Die soziale Identität dieser Schüler muss sich auf diese Grundlagen stützen.

Erziehung ist nicht dasselbe wie Lehre. Viele Menschen sind in der Lage zu lehren, aber nur sehr wenige können wirklich erziehen. Gemeinschaften, deren Individuen es an erhabenen Idealen, guten Umgangsformen und menschlichen Werten mangelt, sind wie ungehobelte Menschen, die in ihren Freundschaften nicht loyal, und in ihren Feindschaften inkonsequent sind. Wer diesen Menschen vertraut, wird immer enttäuscht werden, und wer sich in ihre Abhängigkeit begibt, wird früher oder später ohne Unterstützung dastehen. Der beste Weg, sich die lebenswichtigen Werte zu erwerben, liegt in einer angemessenen religiösen Erziehung.

Das Überleben einer Gemeinschaft basiert sowohl auf ihrem Idealismus und ihrer guten Moral als auch auf ihrer Fähigkeit, das erforderliche wissenschaftliche und technologische Level zu erreichen. Aus diesem Grunde sollte die Vermittlung von handwerklichen und kaufmännischen Fähigkeiten spätestens in der Grundschule beginnen. Eine gute Schule ist kein Gebäude, in dem man sich ausschließlich theoretische Informationen erwirbt, sondern eine Institution und ein Labor, in der bzw. dem die Schüler auf ihr Leben vorbereitet werden.

Von entscheidender Bedeutung für die Erziehung ist die Geduld. Menschen zu erziehen ist die erhabenste, aber auch die schwierigste Aufgabe unseres Lebens. Lehrer sollten ihren Schülern ein gutes Beispiel geben und geduldig sein, um das gewünschte Resultat zu erzielen. Sie sollten ihre Schüler gut kennen und an Verstand, Herz, Geist und Gefühl appellieren. Wer Menschen erziehen möchte, sollte sich um jedes einzelne Individuum kümmern und nicht vergessen, dass jeder Mensch eine eigene ‚Welt‘ darstellt.

Die Schule stattet ihre Schüler mit der Fähigkeit, unablässig zu lesen, aus, und spricht selbst dann noch, wenn sie eigentlich längst schweigt. Daher dominiert die Schule, obwohl sie ja eigentlich nur einen Lebensabschnitt umfasst, alle Zeiten und Ereignisse. Für den Rest ihres Lebens inszenieren die Schüler das, was sie in der Schule gelernt haben, neu und leiten aus ihrem erworbenen Wissen unentwegt Informationen ab. Lehrer sollten wissen, wie sie Zugang zu den Herzen ihrer Schüler finden, und unauslöschliche Stempel auf ihrem Verstand hinterlassen. Sie sollten die Informationen, die sie den Schülern zukommen lassen, überprüfen, indem sie ihren eigenen Verstand und ihre eigenen Herzen läutern. Eine gute Unterrichtsstunde bietet den Schülern mehr als nur nützliche Informationen und Fähigkeiten. Sie erhebt sie in die Gegenwart des Unbekannten. Dadurch gewinnen die Schüler Einsicht in die Realität der Dinge und betrachten jedes Ereignis als ein Zeichen der unsichtbaren Welt.

Pädagogische Dienstleistungen und ihre Verbreitung in alle Welt

Über das Thema Bildung und Erziehung wurde bereits oft und viel geschrieben. Ich möchte mich ihm im Folgenden von drei miteinander verknüpften Blickwinkeln aus nähern: vom menschlich-psychologischen, vom staatlich-sozialen und vom ganz allgemeinen Blickwinkel aus.

Seit mehreren Jahrhunderten unterliegen wir dem Einfluss zeitgenössischen westlichen Denkens, das ohne jeden Zweifel über viele positive Aspekte verfügt. Nichtsdestotrotzkennt es aber auch zahlreiche Mängel, was auf die Geschichte, die es durchlief, und auf die Bedingungen, die es hervorbrachte, zurückzuführen ist. Im Mittelalter, als Europa von einem theokratischen System beherrscht wurde, an dessen Spitze die Kirche bzw. von der Kirche ernannte Monarchen standen, kam dieser Kontinent vor allem in Gestalt von Andalusien und durch die Kreuzfahrer mit der islamischen Welt in Berührung. Diese Begegnung und weitere Faktoren öffneten der Renaissance und den Reformbewegungen Tür und Tor. Die Knappheit von Land, die Armut, die Notwendigkeit, größer werdende Bedürfnisse stillen zu müssen, und die Neigung von Inselstaaten wie England, Transportgüter zu verschiffen, führten zu geographischen Entdeckungen in Übersee.

Die Haupttriebkraft all dieser Entwicklungen war sicherlich die Notwendigkeit, steigende materielle Bedürfnisse befriedigen zu müssen. Als sich die wissenschaftlichen Studien, die diesen Prozess begleiteten, in Opposition zur Kirche und zur mittelalterlichen christlichen Scholastik vollzogen, sahen sich die Europäer mit einem Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft konfrontiert.2 In der Folge entfernte sich die Religion von der Wissenschaft, und viele Menschen brachen mit der Kirche. Diese Situation begünstigte schließlich den Aufstieg von Materialismus und Kommunismus. Was die soziale Lage betrifft, sah sich die Menschheit mit den dramatischsten Problemen der Geschichte konfrontiert: mit globaler Ausbeutung, mit unendlichen Konflikten um Macht, mit zwei Weltkriegen und mit der Teilung der Welt in zwei Blöcke.

Der Westen hielt die Welt mehrere Jahrhunderte lang unter ökonomischer und militärischer Kontrolle. In den letzten Jahrhunderten hat sein Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft viele Intellektuelle beschäftigt. Bewegungen der Aufklärung, die im 18. Jahrhundert entstanden, schenkten allein dem Verstand des Menschen Beachtung. Positivisten und Materialisten betrachteten den Menschen als rein körperliche Einheiten. Eine spirituelle Krise folgte auf die andere. Die Behauptung, diese Krisen und das Fehlen spiritueller Befriedigung seien die entscheidenden Faktoren, die sich hinter dem Kampf um die Macht verbergen, welcher seit zwei Jahrhunderten tobt und in den zwei Weltkriegen seinen Höhepunkt fand, ist nicht aus der Luft gegriffen.

Als Besitzer eines Glaubenssystems mit einer anderen Geschichte und Essenz haben wir dem Westen, zu dem wir starke ökonomische, soziale und sogar militärische Beziehungen unterhalten, aber auch der Menschheit in ihrer Gesamtheit einiges zu bieten. An erster Stelle zu nennen wäre in diesem Zusammenhang unsere Sicht des Menschen. Diese Sicht ist weder ausschließlich auf uns beschränkt, noch ist sie subjektiv. Vielmehr stellt sie eine objektive Sichtweise dar, die sich mit der Frage beschäftigt, was wir wirklich sind.

Wir sind Geschöpfe, die nicht nur aus Körper und Geist bestehen, sondern harmonische Kompositionen dieser Elemente. Jeder Mensch verfügt über einen Körper, der in einem Netz von Bedürfnissen gefangen ist, und über einen Geist, der subtilere und vitalere Bedürfnisse hat als der Körper. Jeder von uns wird von Ängsten in Bezug auf Zukunft und Vergangenheit gequält und sucht Antworten auf Fragen wie: „Wer bin Ich? Was stellt diese Welt dar? Was wollen das Leben und der Tod von mir? Wer hat mich zu welchem Zweck auf diese Welt geschickt? Was passiert mit mir, und worin liegt der Sinn des Lebens? Wer ist mein Reiseleiter auf dieser Reise durch die Welt?“

Jeder Mensch ist ein Geschöpf mit Gefühlen, denen der Verstand nicht Genüge leisten kann, und ein Geschöpf des Geistes, mit dessen Hilfe wir uns unsere essenzielle menschliche Identität erwerben. Jedes Individuum ist all das. Wenn der Mensch, um den sich alle Systeme und Bemühungen drehen, als ein Geschöpf mit all diesen Aspekten betrachtet und geschätzt wird und wenn alle seine Bedürfnisse befriedigt werden, dann kann er wahre Glückseligkeit erlangen. An diesem Punkt ermöglichen nur Bildung und Erziehung den wahren Fortschritt des Menschen und die Entwicklung seines eigentlichen Wesens.

Um sich die enorme Bedeutung von Bildung und Erziehung zu vergegenwärtigen, rufe man sich einmal mehr den Unterschied zwischen Mensch und Tier in Erinnerung. Tiere müssen sich nicht erst entwickeln, indem sie lernen, sich Wissen aneignen und Schwäche zeigen. Der Sinn ihres Lebens besteht darin, ihrer natürlichen Begabung entsprechend zu handeln und dadurch ihrem Schöpfer aktiv zu dienen. Unsere Hauptpflicht hingegen lautet, Stabilität und Klarheit in Gedanken und Vorstellung zu erreichen. Wir sollen uns eine ‚zweite Natur‘ aneignen und uns dafür qualifizieren, unser Leben in den ‚kommenden, viel erhabeneren Sphären‘ fortsetzen zu dürfen. Darüber hinaus müssen wir Herz, Geist und alle uns eigenen Fähigkeiten nutzen, indem wir unsere Pflichten als Diener wahrnehmen. Wenn wir unsere inneren und äußeren Welten, die zahlreiche Mysterien beherbergen, miteinander vereinigen, werden wir das Geheimnis des Seins enthüllen und uns den Rang wahrer Menschen aneignen.

Der Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft und sein Resultat, der Materialismus, betrachten die Natur und den Menschen als Ansammlungen von Materie, die nur erschaffen wurden, um körperliche Bedürfnisse zu erfüllen. Die Folge ist, dass wir uns heute mit einer globalen Umweltkatastrophe konfrontiert sehen, die die ganze Menschheit bedroht.

Man bedenke: Ein Buch ist die materielle Manifestation (mit Hilfe von Worten) von etwas, das im Kopf des Autors über eine ‚spirituelle‘ Existenz verfügt. Zwischen den beiden Möglichkeiten, eine einzige Wahrheit und einen einzigen Inhalt in zwei unterschiedlichen Welten auszudrücken, besteht kein Widerspruch. Ähnlich besitzt ein Gebäude im Kopf seines Architekten eine spirituelle Existenz; in ‚Schicksal oder Vorherbestimmung‘ nimmt es die Form eines Planes an, und in seiner materiellen Existenz die Form eines Bauwerks. In diesen drei unterschiedlichen Ausdrucksformen ein und derselben Bedeutung und Wahrheit in drei Welten existiert ebenfalls kein Widerspruch. Nach einem solchen zu suchen, wäre reine Zeitverschwendung.

Auch zwischen dem Koran, den anderen Schriften Gottes (die Seinem Attribut Sprache entstammen) dem Universum (das Seinen Attributen Macht und Willen entspringt) und den Wissenschaften, die jene erforschen, kann kein Widerspruch herrschen. Das Universum ist ein mächtiger Koran, der aus Gottes Attributen Macht und Willen hervorgegangen ist. Mit anderen Worten – wenn dieses Beispiel denn angemessen ist: Das Universum ist ein unermesslich großer erschaffener Koran. Der Koran wiederum, der die Gesetze in anderer Form zum Ausdruck bringt, ist ein Universum, das verschlüsselt und zu Papier gebracht wurde. In ihrer wahren Bedeutung widersetzt sich die Religion weder der Wissenschaft noch dem wissenschaftlichen Arbeiten und setzt diesen auch keine Grenzen.

Die Religion leitet die Wissenschaft an, bestimmt ihr wahres Ziel und stellt ihr moralische und universelle menschliche Werte zur Verfügung. Würde diese Tatsache im Westen verstanden und diese Verknüpfung von Wissenschaft und Religion stärker betont, lägen die Dinge anders. Dann hätte die Wissenschaft mehr Nutzen als Schaden gebracht, und außerdem hätte sie nicht der Produktion von Bomben und anderen tödlichen Waffen den Weg geebnet.

Heute wird oft behauptet, die Religion sei entzweiend und führe dazu, dass die Menschen einander umbringen. Aber es ist doch wohl unbestreitbar, dass die gnadenlose Ausbeutung der vergangenen Jahrhunderte und insbesondere die Kriege des 20. Jahrhunderts, die über 100 Millionen Menschen töteten und noch mehr zu Heimatlosen, Witwen, Waisen und Versehrten machten, keiner Religion und erst recht nicht dem Islam anzulasten sind. Nein, dafür sind der wissenschaftliche Materialismus, eine Theorie des Lebens und der Welt, die sich von der Religion abgewandt hat, und die Unversöhnlichkeit unterschiedlicher Interessen verantwortlich.

Auch die Umweltverschmutzung, die sich als Folge des wissenschaftlichen Materialismus ausgebreitet hat, ist dem spezifisch westlichen Denken zuzuordnen. Der globalen Umweltverschmutzung liegt die bereits erwähnte Auffassung zu Grunde, die Natur sei lediglich eine Ansammlung von Dingen, die keinen anderen Wert hat, als körperliche Bedürfnisse zu befriedigen. In Wirklichkeit ist die Natur aber viel mehr als ein Haufen Materie oder eine Ansammlung von Objekten. Sie besitzt ein hohes Maß an Ehrwürdigkeit, denn sie ist die Arena, in der Gottes Schöne Namen zur Schau gestellt werden.

Die Natur ist eine Ausstellung jener Schönheit, die erhabene und umfassende Bedeutungen in den unterschiedlichsten Formen zeigt: in der Form von Bäumen, die Wurzeln schlagen, von Blumen, die blühen, von Früchten, die Geschmack produzieren, von Regen, der in Strömen fließt, von Luft, die ein- und ausgeatmet wird, oder von Erde, die unzählige Geschöpfe ernährt. Mit dem Nektar, den die Natur dem wie eine Biene umherfliegenden Verstand des Menschen, dessen Urteilskraft und seiner Beobachtungsgabe präsentiert, verwandelt sie sein Herz in eine Honigwabe. Einzig und allein der Honig des Glaubens, der Tugend, der Liebe zur Menschheit und allen anderen Kreaturen um des Schöpfers willen, der Unterstützung der Mitmenschen, der Aufopferung für andere und der Dienst an der ganzen Schöpfung fließen aus dieser Wabe.

Wie bereits Bediuzzaman Said Nursi feststellte, existiert ein Bildungskonzept, das sich um die Erleuchtung des Verstandes durch Wissen und Wissenschaft und um die Reinigung des Herzens durch Glauben und Rechtschaffenheit bemüht. Dieses Konzept, das den Schüler auf diesen beiden Flügeln in die Himmel der Menschlichkeit erhebt, und das das Wohlwollen Gottes im Dienst an den Mitmenschen sucht, hat vieles zu bieten. Es befreit die Wissenschaft vom Materialismus – von ihrem Status, sowohl aus materieller als auch aus spiritueller Perspektive ein ebenso schädlicher wie nützlicher Faktor und eine tödliche Waffe zu sein. Dieses Konzept wird es, um mit Einsteins Worten zu sprechen, nicht zulassen, dass die Religion verkrüppelt bleibt. Auch wird es sich dagegen zu wehren wissen, dass man die Religion weiterhin wahrnimmt, als sei sie von Intelligenz, Leben und wissenschaftlicher Wahrheit abgeschnitten – als sei sie eine fanatische Institution, die Wände zwischen den Menschen und den Nationen errichtet.

Der Menschheit durch Bildung und Erziehung dienen

Dank der rasanten Entwicklungen in den Bereichen Transportwesen und Telekommunikation hat sich die Welt in ein globales Dorf verwandelt. Die unterschiedlichen Nationen ähneln Nachbarn, die Tür an Tür wohnen. Gerade jedoch in einer Welt wie dieser dürfen wir nicht vergessen, dass der Bestand eines Staates nur dann gewährleistet ist, wenn die spezifischen Eigenarten jeder Nation bewahrt werden. Im Mosaik der Staaten und Nationen werden diejenigen, die ihre einzigartigen Merkmale – ihre ‚Muster‘ und ‚Formen‘ – nicht schützen, im Laufe der Zeit verschwinden. Was für alle anderen Nationen gilt, trifft auch auf uns zu: Auch unser bedeutendstes Kapital besteht aus Religion, Sprache, Geschichte und Vaterland. Was unsere Kultur und unsere Zivilisation, deren Anfänge im Islam und in Zentralasien liegen und die über Jahrhunderte in Anatolien, Europa und sogar in Afrika modelliert wurden, so einzigartig macht, beschrieb Yahya Kemal in seinem Werk The Districts without the Call to Prayer (Stadtviertel ohne Gebetsruf) mit tiefer Sehnsucht.

Ein Sprichwort sagt: „Ein Nachbar braucht die Asche seines Nachbars.“ Einem Menschen, dessen Asche nicht von seinem Nachbarn benötigt wird, wird niemand irgendeinen Wert beimessen. Wir haben, wie bereits erwähnt wurde, der Menschheit mehr zu geben, als wir von ihr nehmen. Unabhängige Organisationen haben Unternehmen und Gesellschaften gegründet und dienen ihren Mitmenschen voller Eifer. Die Akzeptanz der Bildungsstätten, die sich trotz großer finanzieller Schwierigkeiten über die ganze Welt verbreitet haben, und ihre Fähigkeit, mit westlichen Bildungsstätten mitzuhalten und sie teilweise sogar zu übertreffen, sollten doch wohl hinreichend belegen, dass unsere Behauptungen kein leeres Geschwätz sind.

Als türkisches Volk haben wir in den letzten Jahrhunderten die unterschiedlichsten Probleme angehäuft. Ihnen zu Grunde liegt unsere fehlerhafte Konzentration auf die äußeren Aspekte des Islam und die Vernachlässigung dessen innerer Perle. Wir begannen, andere zu imitieren und bildeten uns ein, es bestehe einen Konflikt zwischen Islam und positiver Wissenschaft. Und das, obwohl letztere uns doch lediglich die Gesetze Gottes enthüllt, in denen sich Gottes Attribute Macht und Willen manifestieren (wobei diese Gesetze Ausdrucksformen des Koran sind, der Gottes Attribut Sprache entspringt). Die Vernachlässigung der inneren Weisheit des Islam führte zu Despotismus in Wissen, Gedankenwelt und Verwaltung. Eine Hoffnungslosigkeit, die Chaos mit sich brachte, ergriff die Menschen und Institutionen. Unsere Arbeit zeichnete sich durch Misswirtschaft aus. Der Arbeitsteilung wurde keine Bedeutung mehr geschenkt.

Kurzum: Unsere drei größten Feinde sind Unwissenheit, Armut und Spaltung auf internationaler Ebene. Wissen, Arbeitskraft und Solidarität können diesen Übeln entgegenwirken. Da die Unwissenheit Problem Nummer Eins ist, müssen wir sie durch Erziehung und Bildung bekämpfen. Die Bildung war schon immer der beste Weg, unserem Land zu dienen. Heute, da wir in einem globalen Dorf leben, ist sie auch der beste Weg, der ganzen Menschheit zu dienen und einen Dialog mit den anderen Kulturen zu etablieren.

Zu allererst jedoch sind Bildung und Erziehung Dienste am Menschen; denn wir wurden auf die Erde gesandt, um zu lernen und uns durch Bildung zu vervollkommnen. Mit seiner Aussage „Eine Rückkehr zum alten Status Quo ist ausgeschlossen. Entweder wir finden einen neuen, oder wir werden ausgelöscht“ richtete Said Nursi das Augenmerk auf Lösungen und damit auf die Zukunft. Er eröffnete den Dialog mit Mitgliedern anderer Religionen, indem er kontroverse Themen zunächst ausklammerte. In der Tradition des berühmten islamischen Mystikers Dschalal ad-Din ar-Rumi, der sagte: „Einer meiner beiden Füße steht im Zentrum, und der andere schweift wie ein Zirkel in 72 Kreisen (Menschen aller Nationen) umher“, zog auch Said Nursi einen weiten Kreis, in den er alle Monotheisten einschloss. Er wies darauf hin, dass die Tage der brutalen Gewalt vorbei sind: „Zivilisierte Menschen überzeugen durch Argumente“, und stellte damit klar, dass Dialog, Überzeugung und Gespräche, die auf Beweisen gründen, für Menschen, die der Religion dienen möchten, von größter Wichtigkeit sind. Er ermutigte uns, von Wissen und Worten Gebrauch zu machen: „In der Zukunft wird sich die Menschheit Wissen und Wissenschaft zuwenden, und in der Zukunft werden die Vernunft und das Wort regieren.“ Er rückte von der Politik und direktem politischem Engagement ab und definierte Grundsätze für die Religionen und den Dienst an den Menschen, die heute wie in Zukunft Gültigkeit besitzen.

Im Lichte dieser Prinzipien habe ich meine Anhänger dazu aufgerufen, ihrem Land und der Menschheit durch Bildung und Erziehung zu dienen. Ich habe sie dazu ermuntert, dem Staat bei der Erziehung und Ausbildung zu helfen, indem sie Schulen gründen. Bildung radiert Unwissenheit aus. Arbeit und der Besitz von Kapital beseitigen die Armut, und Einheit, Dialog und Toleranz heben internationale Spaltung und Separatismus auf. Da jedoch jedes Problem im Leben des Menschen seinen Ursprung im Menschen selbst hat, sind Bildung und Erziehung die effektivsten aller Werkzeuge – egal ob eine Gesellschaft sozial wie politisch paralysiert ist oder ob sie funktioniert wie ein Uhrwerk.

Die Schulen

Nachdem die Regierung die Gründung von Privatschulen gestattet hatte, entschieden sich viele Menschen dafür, ihre Reichtümer in den Dienst ihres Landes zu stellen, anstatt nach einem leichtfertig vertändelten Leben in die kommende Welt einzugehen. Ja, sie taten dies sogar mit dem Eifer der Anbetung. Es ist mir gar nicht möglich, alle Schulen, die in diesem Rahmen hier und in anderen Ländern eröffnet wurden, zu kennen. Da ich lediglich die Eröffnung der Schulen empfohlen und angeraten habe, kenne ich nicht einmal die Namen aller Gründungsgesellschaften und auch nicht sämtliche Orte, an denen diese Schulen gegründet wurden.

Bis zu einem gewissen Maße habe ich dieses Thema jedoch in der Presse und in Artikelserien verdienter Journalisten wie Ali Bayramoglu, Sahin Alpay und Atilgan Bayar verfolgt. Schulen wurden z.B. eröffnet in Aserbaidschan, auf den Philippinen, in St. Petersburg (der Hauptstadt des zaristischen Russlands), in Moskau und – mit Hilfe und auf Empfehlung unseres jüdischen Landsmanns, des angesehenen Geschäftsmanns Üzeyir Garih – in Jakutsk. Heute existieren diese Schulen in nahezu allen Ländern mit Ausnahme des Iran, der die Genehmigung verweigert hat.

Schriftsteller und Denker, die sie besucht haben, stellen klar, dass die Schulen von gemeinnützigen türkischen Organisationen finanziert werden. In vielen von ihnen, vielleicht sogar in allen, spielen auch Studiengebühren eine wichtige Rolle. Lokale Verwalter unterstützen die Schulen, indem sie bei Bedarf Land, Gebäude, Kapital und Lehrer bereitstellen. Die Lehrer, die sich für ihr Volk, ihr Land und die ganze Menschheit engagieren und ihren Lebenssinn in der Vermittlung von Wissen finden, arbeiten mit großem Fleiß für ein geringes Gehalt.

Zu Beginn zögerten einige unserer Beamten für Auswärtige Angelegenheiten noch, uns zu helfen, weil sie nicht genau wussten, was sie von unseren Bemühungen zu halten hatten. Heute hat sich dies jedoch geändert. Sowohl zwei Staatspräsidenten der Türkei, der inzwischen verstorbene Turgut Özal und Süleyman Demirel, als auch der frühere Außenminister Hikmet Cetin und der frühere Parlamentspräsident Mustafa Kalemli ließen uns ihre Unterstützung zuteil werden, indem sie den Schulen einen Besuch abstatteten.

An dieser Stelle möchte ich die Aussagen des Journalisten Ali Bayramoglu zitieren, der viele dieser Schulen besuchte:

„Diese Schulen vermitteln keine religiöse Erziehung und gehen ihren Bildungsaktivitäten auch nicht, wie oft fälschlich angenommen wird, in einem religiösen Umfeld nach. Vielmehr wurden sie nach dem Vorbild der‚ Anadolu High-Schools‘ errichtet, die „er eine hochwertige technische Ausstattung und ausgezeichnete Labore verfügen.3 Der Unterrichtsstoff folgt dem Lehrplan des Ministeriums für Nationale Erziehung. Religiöse Fächer werden überhaupt nicht erteilt. Der Journalist Ali Bulac, der diese Schulen besuchte, berichtete sogar, dass die Toiletten absichtlich nicht absolut blitzblank gehalten werden, damit nicht der Eindruck entstehe, die Sauberkeit würde der Vorbereitung auf das Gebet dienen. Die Schulaktivitäten richten sich nach den Gesetzen und der Bildungsphilosophie der jeweiligen Länder. In Usbekistan beispielsweise lernen die Schüler zunächst in den Vorbereitungsklassen Türkisch und Englisch. Dann unterrichten sie türkische Lehrer in englischer Sprache in den Naturwissenschaften und usbekische Lehrer in usbekischer Sprache in den Sozialwissenschaften. Religiöses Wissen zu vermitteln oder eine religiöse Ausbildung zu bieten, ist nicht das Ziel.“

Lokale Behörden anderer Länder sind in Sachen Säkularismus mindestens genauso kritisch wie die türkische Regierung. Doch aufgeklärte Journalisten wie die bereits erwähnten und viele andere haben verdeutlicht, dass diese Länder in Bezug auf ihren zukünftigen Umgang mit den Schulen keinerlei Bedenken hegen. Der Leiter des Moskauer Amtes für Nationale Erziehung sagte sogar anlässlich der Eröffnungszeremonie für die Schule in Moskau: „In der jüngeren Geschichte Russland gab es zwei wichtige Ereignisse. Zum Einen die Landung Gagarins auf dem Mond, und zum Anderen die Eröffnung einer türkischen Schule.“ Er bezeichnete diese Eröffnung also als ein historisches Ereignis.

Für manche Menschen besteht dieses Leben aus den wenigen Tagen, die wir in diesem irdischen Gasthaus verbringen. Sie setzen sich zum Ziel, die Bedürfnisse ihres Egos voll und ganz zu befriedigen. Andere haben eine andere Sicht der Dinge und verleihen ihrem Leben dadurch eine Bedeutung. Für mich persönlich besteht das Leben aus einigen wenigen Atemzügen auf unserer Reise, die in der Welt der Geister beginnt und bis in alle Ewigkeit fortdauert – im Himmel oder, Gott verbiete, in der Hölle.

Dieses Leben ist von größter Wichtigkeit, denn es beeinflusst unser Leben nach dem Tod ganz entscheidend. Daher sollten wir es so verbringen, dass wir uns ein ewiges Leben und das Wohlwollen des Spenders allen Lebens verdienen. Dieser Weg führt über die unentrinnbare Dimension der Dienerschaft Gottes über den Dienst an unseren Familien, Verwandten und Nachbarn zum Dienst an unserem Land und unserer Nation hin zum Dienst an der Menschheit und der Schöpfung. Auf diesen Dienst haben wir ein Anrecht; ihn anderen darzubringen, ist unsere Pflicht.

[Dieses Kapitel ist dem Buch Fethullah Gülen: Advocate of Dialogue; Fairfax 2001 von Ali Ünal und Alphonse Williams entnommen.]


1 Ibn Miskawayh (930-1030) war ein muslimischer Ethiker, Philosoph und Historiker. Seine Abhandlung Tahdhib al-Akhlaq, die von Aristoteles beeinflusst war, gilt als eine der besten Darstellungen der islamischen Philosophie. Seine Allgemeingeschichte Kitab Tadscharib al-Umam wa Ta’aqub al-Himam über den Niedergang des Kalifats der Abbasiden wurde für ihren Rückgriff auf alle zur Verfügung stehenden Quellen allseits geschätzt. Sie war es, die die Entwicklung der arabischen Geschichtswissenschaft entscheidend stimulierte.

2 Dieser Opposition lagen zwei Faktoren zu Grunde: Zum Einen weigerte sich die Katholische Kirche, neue wissenschaftliche Entdeckungen und Konzepte anzuerkennen, und zum Anderen lag der neu entstandenen Mittelschicht daran, sich von den disziplinierenden Regeln der Religion zu befreien.

3 Als ‚Anadolu High-Schools‘ werden staatliche Schulen bezeichnet, in denen wissenschaftliche Fächer in englischer Sprache unterrichtet werden.

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